Das Wolga Delta

Um 10 Uhr ist Abfahrt vor dem Hotel Azimut, das 20 Minuten zu Fuß von unserem Hotel und direkt an der Wolga liegt. Unsere Reisegruppe ist bunt gemischt, aber keiner spricht Englisch.
Wir verlassen die Stadt in Richtung Süden, am Flughafen vorbei und bald darauf fahren wir nicht mehr auf Asphalt sondern Arschbrett. Aber uns ist es diesmal egal. Wir werden ordentlich durchgerüttelt und ein paar Mal verliere ich sogar völlig den Kontakt mit der Sitzfläche, so sehr hüpfe ich in die Luft. Aber ich muss mir keine Sorgen um meine Felge machen und tiefen Rillen oder großen Steinen ausweichen.

Zweimal müssen wir mit einer Art Fähre bzw. Floß einen Fluss überqueren. Die zweite ist ein Highlight. Ein alter russischer Van wurde als Zugmaschine umgebaut und zieht das Floß. Der Fahrer gibt mit der Gangschaltung Gas, manövriert wird ganz „normal“ über das Lenkrad. Das Ding qualmt wie verrückt und macht einen Höllenlärm und nach 2 Minuten ist das Spektakel vorbei. Roland freut sich jetzt schon auf die Heimfahrt meint er.

Nach 1,5 Stunden Fahrt erreichen wir das Reservat. Zuerst gibt es eine Einführung durch die russische Rangerin und wir verstehen natürlich kein Wort, danach legen wir Schwimmwesten an und steigen ins Boot. Es dauert nicht lange und wir sehen den ersten Weissschwanz-Seeadler über den Fluss fliegen. Immer wieder passieren wir große Lotus Felder. Das Boot legt an und wir laufen auf einem Pfad durch einen Wald, im Wasser davor steht ca. 6m hohes Schilfrohr. Wir verstehen weder die Erklärungen der Rangerin noch was auf den Tafeln steht – schön ist es trotzdem. Bis Roland eine Schlange auf einem Baum neben dem Pfad entdeckt. Ich erschrecke kurz, aber die Rangerin meint, die Schlange sei nicht giftig. Das war dann auch schon das wildeste Tier für heute. Auf dem Rückweg mit dem Boot sehen wir nochmal einen Adler und viele große und kleine Frösche auf den Lotus Blättern. Die Blätter sind übrigens riesig und dass das Wasser komplett von ihnen abperlt stimmt tatsächlich, die Rangerin hat es ausführlich demonstriert. Zwei Stunden hat der Rundweg gedauert und auch wenn wir nichts verstanden haben, war es ein schöner Ausflug.

Der Bus nimmt wieder den gleichen Weg zurück nach Astrachan. Am Astrachaner Kreml steigen wir aus und laufen zum Hotel. Auf unserem Balkon planen wie den morgigen Tag. Es geht nach Elista, die Hauptstadt von Kalmückien.

Astrachan, Russland

Das Frühstück im Hotel fällt bescheiden aus und passt irgendwie zu meinem ersten Eindruck gestern. Die Eier sind lieblos angebraten und zerfleddert und das Brot ist alt und trocken. Meine Blinis mit Quark sind allerdings mega lecker.

Unser Ziel heute: Irgendwie ins Wolga Delta zu kommen. Das Wolga Delta ist ein fast 30.000 km2 großes Naturschutzgebiet mit einer einzigartigen Flora und Fauna. Hier mündet Europas längster Fluss, die Wolga in über 800 Armen in das Kaspische Meer. Je nach Jahreszeit leben hier mehr als 300 Vogelarten, z.B. Reiher, Fisch- und Seeadler, Falken, Komorane, Bartmeisen und viele weitere. Rolands Interesse gilt mehr den Fischen – denn er bewirtschaftet in der Nähe von Passau zusammen mit seinem Vater in seiner Freizeit mehrere Fischteiche, u.a. für Karpfen. Angeblich soll es im Wolgadelta bis zu 35kg schwere Wildkarpfen geben. Und Welse, die sogar 100 kg auf die Waage bringen. Daneben Stöer, Zander, Hechte, Rodfedern und andere im Vergleich zu den monströsen Welsen und Karpfen langweilig wirkende Fische. Also zum Angeln komme ich nicht mit, das mache ich Roland gleich klar, aber bei einer Bootstour auf der Wolga bin ich gern dabei.

Roland hat im Internet das Reisebüro „Pegas Tours“ um die Ecke gefunden. Wir erkundigen uns dort nach einem Ausflug in das Astrachan Nature Reserve. Am liebsten würden wir auf eigene Faust dorthin, wir hoffen aber, dass wir bei einer geführten Tour mit dem Boot viel mehr über Flora und Fauna im Delta erfahren und auch mehr Tier sehen.

Angelina und ihr Kollege vom Büro sind super nett und hilfsbereit und telefonieren gleich mit dem Reservat. Eine individuelle Führung ist so spontan leider nicht möglich, aber wir können uns morgen einer kleinen Gruppe anschließen. Leider ist die Führung nur auf Russisch, wir buchen sie trotzdem. Morgen um 10 Uhr geht’s los.

Wir spazieren durch die Stadt, sehen uns den Kreml an und gehen in ein Fischladen, der auch den berühmten Kaviar aus Astrachan verkauft.

Dann entdeckt Roland einen Anglerladen. Und jetzt wird geshoppt. Eine Fischerhose, Stiefel, T-Shirt, eine Outdoor-Hose, ich bekomme ein Cap und ein Tuch und wir kaufen uns jeder einen Tarnhut mit Moskitonetz. Mit drei vollen Tüten verlassen wir den Laden. Keine Ahnung wie wir das auf unseren Bikes unterbringen sollen.

Auf dem Fischmarkt und im Supermarkt nebenan kaufen wir für das Abendessen ein. Wir mussten heute in ein anders Zimmer umziehen, das im 2. Stock liegt und einen sehr schönen Balkon mit Blick auf den Astrachaner Kreml hat. Dort verbringen wir den Abend mit geräuchertem Stör und Gösser Bier.

Einreise nach Russland

Roland ist total aufgeregt. Er hat bis spät Nachts recherchiert, was man im Wolga Delta nahe Astrachan alles sehen und erleben kann. Er möchte mindestens zwei Nächte dort bleiben.

Aber zuerst mal hin kommen. Wir sind noch gar nicht raus aus der Stadt, da entdeckt Roland einen Schrottplatz, auf dem ein altes Flugzeug der UdSSR zwischen russsichen Trucks und anderem Schrott verrostet. Neugierig wie er nunmal ist, will er sich das genauer ansehen und wird tatsächlich von einem älteren Mann hineingelassen. Der Mann hinkt und geht am Stock aber er führt Roland gern über den Schrottplatz und zeigt ihm die Überreste des Cockpits und weitere Flugzeiteile, die dort verteilt rumliegen. Ein Flugzeugheck schaukelt leicht im Wind und macht knarzende Geräusche. Wie kamen diese riesen Flugzeugteile bloß hier her? Eine skurrile Atmosphäre, Roland ist völlig aus dem Häuschen als er mir davon erzählt. Der geilste Schrotrplatz, den er jemals gesehen hat. Und das wsren viele.

Die Straße zur russischen Grenze ist leider in einem sehr schlechten Zustand. Voller Schlaglöcher und Furchen und wir kommen daher nur langsam voran. Auf halber Strecke halten wir an einem feuerrot leuchtenden Salzsee kurz für ein paar Fotos.

Die Ausreise aus Kasachstan ist easy, die Einreise nach Russland ebenfalls. Der russische Zöllner möchte kurz in unsere Tankbags gucken, das war’s. Wir sind in Russland, Land Nummer 12 auf unserer Reise.

In Astrachan hab ich ein Hotel rausgesucht, das nur 1.300 Rubel, umgerechnet 16€/Nacht kostet. Der Check-in gestaltet sich schwierig, da die unglaublich unsympathische Frau an der Rezeption quasi kein Englisch spricht. Und dann rollt sie auch noch mit den Augen, weil ich kein Russisch spreche. „You Phone Translate“ sagt sie. „No Internet. Do you have wifi?“ antworte ich. Augenrollen Nr. 2 aber ich bekomme das Passwort. Als ich bei booking nachsehe, kostet das Zimmer nur noch 900 Rubel. Ich zeige ihr mein Telefon. Sie will trotzdem 1.700 Rubel. Also buche ich das Zimmer kurzerhand direkt vor ihrer Nase über booking. Nicht mit mir, unfreundliches Fräulein. Es folgen weitere Augenroller, weil wir mit Karte zahlen wollen und dann weil ich die russische Frühstückskarte nicht lesen kann. Kaffee versteht sie, Blinis „niet mjersa“ und Hühnergackern für ein paar Eier auch. Geht doch.

Als sie mir das Zimmer zeigt, spricht sie auf einmal etwas Englisch, zwar unglaublich schlecht aber es reicht, um mich erneut zu beschuldigen, dass ich kein Russisch spreche. Why? und sie schüttelt den Kopf. I’ve learned Englisch at school erkläre ich ihr versöhnlich. Why all learn English not Russian will sie wissen. Weil Russland nicht der Nabel der Welt ist auch wenn du das glaubst, du Nuss. Denke ich mir und schweige den restlichen Weg zum Zimmer.

Nachdem wir alles im Zimmer verstaut haben, kaufen wir uns noch ein Bier im Hotel, es gibt Gösser. Unglaublich. Roland und ich sitzen auf der Terrasse, als die Frau von der Rezeption zu uns kommt und eine Zigarette raucht. Sie beginnt ein Gespräch über Russland und die Welt und ich bin froh, dass sich Roland ihrer annimmt. Sie liebt Putin und Stalin war ja auch so super, ach was war der Typ toll. So stark. Wie Putin. Ich glaub ich muss gleich kotzen. Sie fragt, warum Europa Russland nicht mag. Russland ist ja gar nicht böse. Auch nicht zur Urkaine. Ukraine is not our enemy meint sie. Mädel, schonmal daran gedacht, dass Russland aber für die Ukraine der Feind ist? Wer ist denn mit militärischer Gewalt dort einmarschiert? Ich kann mir das nicht länger anhören, sage Gute Nacht, Roland folgt mir und wir gehen aufs Zimmer. Was für ein wahnsinniger erster Tag in Russland!

Ans kaspische Meer

Die heutige Etappe führt uns aus dem Nordwesten Kasachstans bis an das Kaspische Meer. 450 km geht es fast ausschließlich geradeaus. Als wir tanken, hält ein Auto mit Aserbaidschanischem Kennzeichen neben uns an. Der Fahrer fragt, ob es hier nach Belgrad geht. Hat er wirklich Belgrad gesagt? Das ist ja so wie wenn man mich in München auf der A9 fragt, ob es hier zum Nordkap geht.

Am Spätnachmittag feiern wir unser 20.000 km Jubiläum. Das Foto dazu soll etwas Besonderes sein und wir probieren mehrere Posen aus. In die Luft springen und mit Timer das Foto auslösen ist eine fiese Kombination. Wir hüpfen entweder zu spät oder zu früh oder nicht synchron. Es dauert über eine Stunde, bis wir ein vernünftiges Foto haben. Weil die Outtakes so lustig sind, lade ich davon auch ein paar hoch.

Wir erreichen abends Atyrau, checken im Hotel ein und überlegen uns beim Abendessen das Ziel für morgen. Ich denke, wir fahren auf dem schnellsten Weg durch Russland. Hier gibt’s nix Besonderes. Ich will nach Georgien! Roland meint, er hat da eine interessante Gegend am Kaspischen Meer entdeckt, mit ganz vielen Flüssen. Dort könnten wir unseren ersten Stopp machen. Nach kurzer Recherche stellen wir fest: Die „interessante Gegend“ ist das Wolga Delta. Da müssen wir auf jeden Fall hin!