Tag 1: Von Veracruz nach Chachalacas: 50 km
Überpünktlich um 8:30 Uhr stehe ich in kompletter Motorradklamotte mit meiner gepackten Tasche unten vor dem Hoteleingang. Typisch deutsch würde man vermuten, aber wer mich kennt, der weiß, dass ich eher Team „notorisch unpünktlich“ bin. Aber zu spät sein geht beim Rally-Fahren natürlich gar nicht und so habe ich mich im letzten Jahr extrem umgestellt. Man kann mich mittlerweile als „pünktlich, wenn‘s drauf ankommt“ beschreiben.
Hernan zeigt mir mein Bike für die Tour. Es ist eine 250er KTM, die offensichtlich schon einiges erlebt hat. Gottseidank bin ich nicht die Erste, die Schrammen an das Bike macht. Leider hat die KTM einen hohen Sitz. Ich habe mit 1,65m und kurzen Beinen nicht gerade die ideale Figur für Enduromotorräder. In Ruhe losfahren oder Anhalten ist kein Problem, allerdings wäre es wesentlich angenehmer, wenn ich in technisch schwierigen Situationen meine Füße zu Hilfe nehmen kann und nicht einfach umfalle, weil mir 30 cm bis zum Boden fehlen. Hernan meint, dass er in Oaxaca einen Standardsitz hat, der ca. 4 cm niedriger ist. Supi, das sind dann also nur 5 Tage mit einem Motorrad, dessen Sitz mir bis zum Bauchnabel geht. Wir verladen unsere Koffer auf den Truck, füllen die Trinkrucksäcke randvoll und los geht’s durch Veracruz in Richtung Norden. Unser heutiges Ziel ist der Strand von Chachalacas.
Die erste Panne
Es dauert nicht lange, bis wir die erste Panne haben. Nämlich genau 30 Minuten. Auf der Schnellstraße merkt Kate, dass ihr Hinterreifen von der Felge gerutscht ist. Wir halten am Standstreifen an. Es dauert nur wenige Minuten, bis Pachi mit dem Support-Truck eintrifft. Marco hat bereits das Hinterrad ausgebaut. Hernan nimmt den kaputten Reifen von der Felge, holt einen neuen mit Mousse vorbereiteten Reifen vom Truck und zieht ihn auf die Felge. Der Reifenwechsel hat 3 Minuten gedauert. Ich bin beeindruckt. Das Hinterrad ist ebenso schnell montiert und wir können weiterfahren.
Nach ungefähr 30 Minuten haben wir die Stelle erreicht, die uns weg von der Hauptstraße ins Gelände bringt. Es ist ein Privatgrundstück. Ein älterer Mann öffnet und das Tor am Zaun. Dahinter geht’s offroad weiter. Und zwar sandig. Mist. Jetzt geht’s los. Ich fühle mich ein bisschen wie ins kalte Wasser geworfen. Eine Stunde Asphalt mit dem fremden Bike und jetzt – zack – Sand. Das erste und auch letzte Mal bin ich im April bei der Olympia-Rally Sand gefahren. Da kam es ähnlich überraschend und hat trotzdem erstaunlicherweise recht gut geklappt. Aber das war auch mit meiner Beta. Heute bin ich total steif, noch nicht richtig eingefahren und ich fühle mich sehr unsicher. Irgendwie zappelt das gesamte Motorrad unter mir und fühlt sich total unkontrollierbar an. Ich halte immer wieder an, komme nicht in den Flow. Wir sind noch nicht direkt am Strand, fahren durch leicht bewachsenes Gelände auf einem schmalen, meist sandigen Track. Hin und wieder kann ich das Meer sehen, aber dann biegen wir wieder ab und bewegen uns weg davon. Keine Ahnung wie lange es dauert, bis mein Bike das erste Mal liegt. Ich war zu langsam, wollte anhalten, kein Boden unter den Füßen und wir liegen beide. Marco hilft mir, das Bike aufzuheben und ich fahre weiter. Ich quäle mich sicher noch eine gute halbe Stunde so durch die Prärie und kippe noch ein oder zweimal um, bevor wir endlich den Strand erreichen. Ich stehe erleichtert mit der kleinen KTM nur wenige Meter vom Atlantik entfernt. Schon ein bisschen toll. Viel mehr Zeit für Emotionen bleibt mir nicht. Hernan fährt zu mir, schreit mir ein paar Instruktionen zu (5. oder besser 6. Gang, immer schön am Gas bleiben und Finger weg von der Kupplung) und sagt, dass er das erste Stück mit mir fährt. Und los!
Im Sand loszufahren, ist schon eine Herausforderung. Man muss direkt Vollgas geben und das Bike nach vorne drücken, damit sich das Hinterrad nicht eingräbt. Mit Schwung und im Zickzackkurs starte ich los und schalte direkt alle Gänge durch. Ich dachte, es ist besser im Sand mehr Gewicht hinten zu haben und bleibe daher sitzen, aber Hernan macht eine Geste, dass ich aufstehen soll. Wir fahren nahe am Wasser, ich erkenne im Augenwinkel die Wellen und die weiße Gischt, traue mich aber nicht, mein Kopf weiter nach rechts zu wenden. Hochkonzentriert sehe ich weit nach vorne. Ich habe keinen Tacho an meinem Bike aber ich fahre sicher 70 km/h oder schneller. Das Motorrad wackelt viel weniger also noch zu Beginn und es stört mich auch nicht mehr so. Geschwindigkeit stabilisiert, der Spruch stimmt. Es dauert nicht lange und ich kann es genießen. Ich denke ich habe sogar gegrinst. Hernan scheint gemerkt zu haben, dass ich mich wohl fühle und ist in einem Wheelie davongezogen. Kate fährt hinter mir und Adrian und Maurice ziehen an mir vorbei. Mike und Cees sind schon lange auf und davon. Jetzt gibt es nur das Meer, das Motorrad und mich. Wir knattern am Strand entlang und ich feiere das Leben. Genauso habe ich mir Mexiko vorgestellt. Wild und frei.
Nach gut 15 Minuten (mir kam es deutlich länger vor) treffen wir wieder auf den Rest der Gruppe. Wir sind an einem kleinen Zulauf zum Atlantik angekommen, den man nur mit einem Boot überqueren kann. Ich halte an, nehme den Helm ab und muss einen kurzen Freudenschrei loslassen. Allen anderen geht es genauso, jeder hat die Fahrt am Strand genossen. Jeweils zwei Bikes werden in das Boot gehoben (die Bootsführer hatten leider die Holzrampen zum Hochfahren vergessen) und mit den Fahrern ans andere Ufer übergesetzt. Die Überfahrt dauert keine drei Minuten, aber das Verladen der Bikes ist anstrengend und unsere Männer schwitzen. Danach geht es weiter am Strand entlang, schier unendliche Kilometer voller Freude, bis wir einen Sandberg samt wildem Gestrüpp erreichen, den wir mühsam einer nach dem anderen mehr oder weniger geschickt überqueren. Kurz darauf gelangen wir an eine weiteren Meereszulauf und warten erneut auf ein Fischerboot, mit dessen Hilfe wir wieder die Motorräder auf die andere Seite befördern. Wir sind nun direkt am Strand von Chachalacas, es ist deutlich belebter mit Strandbuden und Schwimmtierverkäufern, Vermietstationen für Quads und einigen Familien am Strand. Die nächsten Kilometer fahren wir daher sehr langsam bis wir das Strandrestaurant für unser Mittagessen erreichen. Ich esse Reis mit der Kochbanane Platano, das Grundnahrungsmittel hier in Mexiko und in allen anderen subtropischen Ländern. Ich esse kein Fisch und kein Fleisch, das schränkt die Speisenauswahl oftmals sehr ein. Stört mich aber nicht, denn solange es Reis gibt, bin ich happy. Den esse ich auch gern pur und von mir aus auch täglich.
Hernan erklärt uns, dass es nach dem Lunch quasi direkt in die Dünen geht. Er wird vorfahren und wir sollen exakt seine Linie hinterherfahren. Dünen sind tricky und unberechenbar. Es kann passieren, dass der Sand plötzlich weich und sehr tief wird und das Vorderrad verschluckt. Wenn das passiert, gibt es keine andere Möglichkeit als wieder umzudrehen und einen neuen Anlauf zu versuchen. Und wir sollen zudem keine Düne blindlings überqueren – man fährt sie schräg an, wirft einen schnellen Blick auf die andere Seite und fährt dann drüber, wenn man weiß, wie es dahinter aussieht.
Es geht in die Dünen
Hernan fährt los, ich bin an Position 5 und habe keine Ahnung, welche Spur Hernan gefahren ist. Ich stehe vor der ersten Düne, gebe so gut es geht Gas, schaffe das erste steile Stück, komme dann zu weit nach links, fahre über den Kamm, gehe ein bisschen vom Gas, das Bike taucht leicht ein, ich verliere das Gleichgewicht und purzel auf die Seite. Ich drehe mich um – hinter mir liegen Kate und Maurice. Hernan fährt zu mir, hebt das Bike auf, dreht es um, ich fahre wieder runter und starte von vorne. Diesmal klappt es, mit mehr Gas und der richtigen Spur. Ich komme oben bei der Gruppe an und jubel. Meine erste Düne ist geschafft. Die nächste halbe Stunde fahren wir kreuz und quer durch die Dünen, es ist anstrengend und auch ungewohnt. Die anderen spielen sich richtig gut, fahren gleichmäßig und schwungvoll an den Dünen entlang. Kate und ich sind noch etwas unlocker und nach einigen weiteren Umfallern beschließen wir, es für heute gut sein zu lassen und ins Hotel zu fahren. Morgen ist ja auch noch ein Tag. Und es folgen sechs weitere. Wir müssen nicht gleich am ersten Tag unser gesamtes Pulver verschießen.
Marco führt uns ins Hotel, während die anderen noch weiter in den Dünen unterwegs sind. Das kleine Hotel Pingui liegt mitten in dem lebhaften Örtchen Chachalacas und entspricht genau meiner Vorstellung des typisch mexikanischen Wohnstils. Ein U-förmiger, farbenfroher Bau mit begrüntem Innenhof, Palmen und kleinem Pool mit einem windschiefen Sonnenschirm in der Mitte. Hinter den gemauerten Rundbögen im Erdgeschoss erstreckt sich eine große Terrasse mit bunten Fliesen, einer weihnachtlich geschmückten Sitzecke samt blinkendem Weihnachtsbaum neben einem großen Bild mit religiösem Engelsmotiv. Gegenüber steht ein eingestaubter Tischkicker und die gemalte Katze darüber an der Wand wirkt wie aus einer anderen Welt. Der Mix aus Tradition und Moderne, die verschiedenen Stilrichtungen und das leichte Chaos machen den Charme des Hotels für mich aus. Überall hat der Zahn der Zeit seine Spuren hinterlassen. Könnte das Gebäude sprechen, es würde sicherlich viele Geschichten über seine Gäste erzählen. Pachi ist bereits hier und so können Kate und ich unser Zimmer beziehen, duschen und danach am Pool chillen.
Zum Abendessen gibt es Torta – das sind mit reichlich Schinken, Käse und Salat belegte Sandwiches. Dazu eingelegte, scharfe Mixed Pickles. Und zum Verdauen den ersten Mezcal sowie einen selbstgebrannten Zuckerrohrschnaps aus der 2l Plastikflasche. Den trinken aber nur Adrian und ich und ich probiere sogar ein Stück des Zuckerrohrs, das seit Monaten in dem Alkohol liegt. Bowle-Früchte für Fortgeschrittene. Ich kaue darauf rum, sauge den Alkohol raus aber blind oder zumindest hackenstramm, wie man mir prophezeit hat, werde ich davon nicht. Im Gegenteil, es schmeckt mir sogar besser als der Mezcal.